11.03.2025
Lesedauer 8 Min
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Reportage: Der junge Mensch und das Meer



Ein mutiger Schritt vom Steg ist erforderlich, als ich in der warmen, böigen Abenddämmerung im Hafen von Dénia das erste Mal Fuß auf Tritons Deck setze. Mit einer Hand am Achterstag, die andere am Reiserucksack, betrete ich das schmale Cockpit der ehemaligen Regattayacht. Dass es sich hierbei um kein gewöhnliches Boot handelt, ist schwer zu übersehen. Neben dem handgeschriebenen Namensbanner am Seezaun und der mit pinken Delfinen und dem Wort „Danke“ bemalten Außenborderhalterung kokettiert die Pride-Flagge groß und farbenfroh im dominierenden Weiß-Blau des Charterhafens.
Triton, eine knapp 10 Meter lange Segelyacht aus den 1970er Jahren mit einem 5 PS Innenmotor ist ein Schiff, das seit 2022 in besonderer Mission unterwegs ist. Sie lautet: Einen Freiraum auf dem Meer für Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans- und agender Personen (kurz FLINTA*) zu erschaffen. Anders als beim „Frauensegeln” richtet sich das Projekt also an eine Zielgruppe, die sich nicht über das biologische Geschlecht, sondern über ein modernes, diverses Verständnis von Genderidentität definiert. Und somit auch über ein kritisches in Bezug auf den Status Quo.

Freiräume erschaffen – ausgerechnet auf dem Meer?
Klingt zunächst überflüssig. Doch der Weg vom Land aufs Wasser ist für viele junge Menschen, allein aus finanzieller Sicht, ein mittelbarer. Der Zugang zu Booten und nautischem Wissen führt meist durch die Segelgemeinschaft, in der ein konservatives, männlich dominiertes Geschlechterbild vorherrscht. Eines, in dem Frauen traditionell eine untergeordnete – und genderqueere Menschen gar keine Rolle spielen.
Das Projekt „Sailing Triton” ist dazu der Gegenentwurf: Geschlechterhierarchien haben hier genauso wenig Platz wie diejenigen, die sie gutheißen. Für alle anderen soll der Zugang so niederschwellig wie möglich gestaltet werden.
Mit diesem Ziel führte der Weg bislang von Pontrieux in der Bretagne über den Golf von Biscaya bis Südspanien – mit circa 6 Knoten Topspeed und regelmäßig wechselnder, oft unerfahrener Crew. Die Ausstattung: minimalistisch. Kein GPS-Kartenplotter, kein Windmesser oder sonstige technische Ausstattung. Für die Notdurft steht ein Eimer bereit, zum Schlafen vier offene Kojen, von denen zwei tagsüber als einzige Sitzmöglichkeit unter Deck dienen. Privatsphäre? Fehlanzeige.
Wo man sich unter Deck allerdings umschaut: kleine Bilder und Basteleien sowie handgemachte Dankes- und Liebesbekundungen an Schiff, Crew und die See. Freiheit ist ein Begriff, der klassisch mit dem Segeln assoziiert wird. Luxus auch. Beides bekommt für die Menschen an Bord von Triton, so lassen die vielen Symbole der Wertschätzung vermuten, einen alternativen Bedeutungshorizont.

Aufbruchstimmung
Hannah ist 29 Jahre alt und hat das Projekt gegründet sowie den größten Teil der Strecke allein geskippert. Gelegentlich übernehmen mittlerweile ehemalige Crewmitglieder nun selbst die Schiffsführung. So auch auf meinem Törn. Eni, 20 Jahre alt, steht barfuß da, sonnengebräunt und mit knallblond gefärbtem Kurzhaarschnitt, als sie mich verlegen lächelnd begrüßt. „Willkommen auf Triton. Die anderen beiden kommen erst morgen. Ich find’ das ganz gut, dann haben wir beide schon einmal ein bisschen Zeit, uns kennenzulernen.“ Eni ist mit dem elterlichen Segelboot groß geworden und seit vier Monaten an Bord. Auf dieser Reise übernimmt sie zum ersten Mal selbst das Kommando.
Die anderen, das sind Eva und Charly. Einen Tag nach meiner Ankunft sind wir schließlich komplett: Vier Frauen zwischen 20 und Anfang 40, die sich nicht kennen und sehr unterschiedliche Segelerfahrung mitbringen – und es in knapp drei Wochen vom spanischen Festland so weit wie möglich über die Balearen schaffen wollen. Dass wir auf diesem Törn nur Frauen sind, ist reiner Zufall, denn mit welchem Buchstaben des FLINTA*-Akronyms man sich identifiziert, spielt hier keine Rolle. Vielmehr lautet der gemeinsame Nenner: Segeln – aber ohne die üblichen, männlichen Dominanzstrukturen.

Gender Sail Gap
Hannah selbst ist genderqueer und hat auf dem Weg zum eigenen Segelprojekt selbst viele Erfahrungen mit Ungleichheit im Segelsport gemacht. Durch die einschlägigen Mitsegelportale entstanden viele Begegnungen, die für Hannah ernüchternd waren, aber auch der Kontakt zu Tritons Eigner-Ehepaar ergab sich auf diesem Weg. Seither leiht Hannah sich das Schiff, um es mit möglichst vielen, diversen Menschen zu segeln – und sich im Gegenzug um die Instandhaltung zu kümmern. Mit Anfang 20 als Rookie eingestiegen, hat Hannah heute rund 6500 Seemeilen auf dem Konto und gerade den „Yachtmaster Offshore” der britischen RYA absolviert – einen der anspruchsvollsten Segelscheine weltweit.
Die Motivation, außer der eigenen Leidenschaft am Segeln, ein solches Projekt ins Leben zu rufen? Laut Hanna: „Zorn und Veränderungswille” gegenüber einer Segelcommunity, die hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse eine deutliche Schieflage aufzeigt.
Denn wer ein Schiff führen will, braucht Erfahrung. Doch diese zu erlangen, um irgendwann selbst das Ruder zu übernehmen – daran scheitern andere junge FLINTA* Personen häufig. Das bestätigt ein empirischer Blick hinter die Steuerstände in Sport- und Yachthäfen ebenso, wie die Mitgliederzahlen deutscher Segelverbände. 31 % weibliche Mitglieder in 2023 (die Angabe “divers” wurde nicht erhoben), der Großteil aller Mitglieder im Alter zwischen 41 und 60 Jahren. Wenig Frauen insgesamt, noch weniger junge – und keine Aussage darüber, wie wenige von ihnen tatsächlich skippern.
Warum ist das so?
„Zu viele Frauen an Bord: Zickenalarm.“
Diesen Satz höre ich, als ich mit einem befreundeten Skipper vor meiner Abreise von meinem Vorhaben erzähle, drei Wochen auf Triton zu segeln. Aus seiner Skepsis gegenüber dem alternativen Crewkonzept macht er keinen Hehl, sodass ich davon absehe zu erklären, dass es nicht nur Frauen sind, die sich hier zusammentun. Als langjähriger Ausbilder hat er seine eigenen Erfahrungen gemacht, die besagten: Zu viele Frauen an Bord sind immer problematisch. Ob das seiner Meinung nach an mangelnder Segel- bzw. Sozialkompetenz liegt – oder doch nur an alten Klischees, die in der Seefahrtswelt tief verankert sind, lässt er offen.
„Gefühlt wird man in den Häfen regelmäßig in die 60er zurückversetzt. Klassische Frauenaufgaben sind Vorschot, Fender und die Reproduktionsarbeit an Bord, also der Bordhaushalt.“ Das sind Hannahs Erfahrungen. Frauen in Verantwortungspositionen? Sehr selten. „Eigentlich kann man das Segeln relativ schnell und einfach erlernen – wenn man sich wohlfühlt. Mir wurde aber von außen fast immer das Gefühl vermittelt, dass es totaler Humbug sei, dass ich mich an Bord eines Schiffes autark bewegen will.“
Zu Beginn vieler Segelkarrieren gehört es sicherlich dazu, sich gegen diese Art Widerstand zu behaupten. Für Hannah ist aber klar: Das Geschlecht spielt eine große Rolle dabei, wie groß er ist.
„Wenn mir in den ersten Jahren Dinge erklärt wurden, war das Ziel nicht, dass ich etwas verstehe. Vielmehr hatte ich den Eindruck, der Erklärende will sich einfach mit seinem Wissensvorsprung profilieren.“ Erfahrungen wie diese haben Hannah erst wütend gemacht – und dann aktiv werden lassen „Ich hatte das Gefühl, dass hier was nicht stimmt. Und ich wusste, dass ich nicht das Problem bin. Deswegen wollte ich einen Raum schaffen, in dem es für unerfahrene, nicht cis-männliche Personen leichter ist, einen Einstieg zu finden.“

„Solo chicas? Muy bien!“
Fünf Tage nach meiner Ankunft auf Triton betrete ich frühmorgens das gläserne Hafenbüro in Sant Antoni de Portmany. So lange mussten wir im Hafen von Dénia ausharren, bis der Wind uns die Überfahrt nach Ibiza erlaubte. Die lange Reise und eine zähe, nächtliche Diskussion über Funk wegen unserer Verspätung hängen mir noch in den Knochen. Da ich gut Spanisch spreche, übernehme ich nun auch unsere Anmeldung.
Nach mediterraner Romantik sucht man im 500 Liegeplätze umfassenden Hafen der touristischen Partystadt vergeblich. Und auch die Kulanzbereitschaft der Mitarbeitenden, uns trotz verspäteter Ankunft willkommen zu heißen, fällt ernüchternd aus.
„No se puede“ wird mir nicht nur von dem jungen, uniformierten Mann immer wieder gesagt, der mir hinter der Plexiglasscheibe gegenüber sitzt.
„Das geht so nicht.“
Wir hatten uns eigenmächtig in eine beliebige freie Box gelegt, um am nächsten Morgen die Formalitäten zu regeln.
Nachdem ich mich mehrfach erkläre und entschuldige, geht er schließlich wortlos mit unseren Bootspapieren ins Hinterzimmer. Erleichterung setzt bei mir ein, als er zurückkommt und unsere Personalausweise sehen möchte, um uns anzumelden. Als er sie mehrfach durchschaut, fragt er schließlich
„Quien es el capitan?“ „Wer ist der Schiffsführer?“
„Eni“, sage ich und deute auf ihren Ausweis. Das erste Mal seit meiner Ankunft huscht ein Lächeln über sein Gesicht. „Muy bien“, sagt er, das heißt „sehr gut“. Bei ihm klingt es wie „nicht schlecht“.
„Uns wurde schon nach ganz normalen Anlegemanövern applaudiert.“
Das sagt mir Hannah, als ich nach anderen Reaktionen auf das Projekt in den Häfen frage. Applaus für ein simples Anlegemanöver – sicher gut gemeint. Aber das zeige, wie etabliert die Erwartung ist, dass Frauen und als solche gelesenen Personen weniger souverän mit einem Boot umgehen können. Und wie groß die Überraschung ist, wenn sie das Gegenteil beweisen.
Sei sie nun positiv oder negativ: Die übertriebene Aufmerksamkeit, die FLINTA*-Personen beim Segeln erfahren, ist eine, der sich viele nicht oft nicht aussetzen wollen. „Es gibt so wenige weibliche, geschweige denn genderqueere Vorbilder in der Segelwelt“, sagt Hannah nachdenklich.
Dieser Mangel an Wegbereitung wird ganz allgemein als Role-Model-Gap bezeichnet und wirkt wie eine zusätzliche, im wahrsten Sinne „unsichtbare” Barriere. Denn wenn Menschen keine Vorbilder haben, mit denen sie sich identifizieren können, fällt es ihnen schwerer, sich selbst in solchen Rollen zu sehen. Und werden somit selbst auch niemals zu welchen.
Unterschätzt werden und sich selbst unterschätzen: Ein beidseitiges Problem also, das auch beidseitig gelöst werden muss.
Leider gibt es aber auch solche, bei denen die Verantwortung deutlich einseitiger ist.
Sicherheit an Bord: Mehr, als nur eine Frage der Rettungsmittel
„Ich werde nie vergessen, wie ich während einer Überführung in Horta auf den Azoren am Steg auf eine junge Person namens Jamie traf, die gerade einem sexuellen Übergriff entkommen war“, berichtet Hannah.
Solche Vorfälle sind auf Segelbooten ein bekanntes Problem, das durch die Hierarchien und die Isolation auf See begünstigt wird. Besonders Plattformen wie „Crewbay“ oder „Find a Crew“, die Mitsegelgelegenheiten vermitteln, geraten dabei immer wieder in den Fokus. Alleinreisende Frauen berichten, dass manche Skipper ihre Machtposition ausnutzen, um Grenzen zu überschreiten oder Gewalt auszuüben. Gruppen wie „Safety Precautions for Female Crew on Leisure Boats“ haben begonnen, Tipps und Blacklists verdächtiger Skipper zu teilen, um Mitseglerinnen zu schützen. Doch selbst mit diesen Hilfsmitteln bleibt es eine Herausforderung, solche Vorfälle zu verhindern – und für Betroffene ist es auf See oft nahezu unmöglich, rechtzeitig Hilfe zu holen.
Auch in Jamies Fall unterhielt der Skipper zu der gesamten, teils minderjährigen Crew sexuelle Beziehungen. Jamie selbst hatte den Absprung aus diesem Missbrauchsumfeld gerade noch so geschafft – die anderen waren dort geblieben. Anfänglich hätten zwar alle gesagt, dass sie nicht einverstanden wären. Aber der Skipper belästigte sie weiter, und so fanden sie sich damit ab, „dass dies der Preis zu sein schien, um den großen Traum nicht aufzugeben.“
„Auf einem Segelboot zu reisen ist für viele so unerreichbar, dass man bereit sein muss, solche Dinge hinzunehmen. Wer weiß schließlich, wann man wieder die Chance dazu bekommt.“ So beschreibt Hannah den faulen Deal, der in den Hierarchie- und Abhängigkeitsverhältnissen an Bord häufig zu herrschen scheint. „Selbst schuld, wenn die an Bord bleiben“ hatten die anderen im Hafen die Angelegenheit abgetan.
„Das ist für mich das komplette Gegenteil von guter Seemannschaft. Ich wünsche mir eine Segelcommunity, die mehr füreinander einsteht und die gegenseitige Verantwortung ernster nimmt.“ Gute Seemannschaft bedeutet neben Fachkenntnis und Sorgfalt eben auch: Hilfsbereitschaft und respektvoller Umgang.
„Laut werden wir hier nur, um den Wind zu übertönen”
Die drückende Sommerhitze nimmt langsam ab, als wir einige Tage später in der Bucht von Port San Miguel im Norden Ibizas an Tritons Deck sitzen und zu Abend essen. Neben vielen anderen Booten liegt auch die Superyacht von Marc Zuckerberg samt Schattenschiff hier und versperrt den Ausblick auf den malerischen Sonnenuntergang über türkisblauem Wasser.
Seit vier Tagen liegen wir außerplanmäßig vor Anker. Bei einem Wendemanöver auf dem Weg von Sant Antoni hierher ist uns das Vorsegel gerissen. Glücklicherweise fand sich an Bord eines Nachbarbootes eine Nähmaschine, mit der Eni und Charly die Reparatur nun selbst vornehmen.

„Ich bin wirklich stolz auf uns, wie wir das gemeistert haben. Alle sind ruhig geblieben“, sage ich, als wir den Moment des Segelrisses noch einmal Revue passieren lassen. Tatsächlich hatten wir uns im Moment des Unfalls zügig und besonnen auf unsere Positionen begeben: Eva und Eni aufs Vorschiff, Charly ans Steuer, ich an den Ausguck.
„Ja, das finde ich auch“, sagt Eni, die wie wir alle noch dabei ist, den Schock zu verkraften.
Als der sich ausbreitende Riss vor unseren Augen plötzlich den blauen Himmel dahinter freigab, war es das einzige Mal, dass sie uns lautstark herumkommandiert hatte. Der Lärm der im Wind schlagenden Segelteile und der vorübergehende Kontrollverlust über das Schiff hatten dies erfordert. Ein solcher Befehlston wird ansonsten auf Triton nicht angeschlagen. Egal ob Stress oder strapazierte Nerven: Gewaltfreiheit ist eine gelebte Maxime an Bord dieses Schiffes. Bei der Kommunikation – und auch in jeder anderen Hinsicht.
“Violence on board, captain over board “
Dieser Satz steht auf den T-Shirts mit Triton-Logo, von denen sich ein Restbestand im Kojenstaufach im Salon befindet. Gewalt an Bord? Kapitän von Bord. Im Original steht er auf einer Mauer im Hafen von Horta – genau dort, wo Hannah damals Jamie aufgelöst am Steg vorfand. Auch in Facebookgruppen wie Balance ta voile, die 2020 zur Vernetzung im Kampf gegen Übergriffe, Diskriminierung und Machtmissbrauch auf Segelbooten gegründet wurde, taucht das Bild dieses Graffiti auf.
Ein paar der T-Shirts sind noch übrig. Neu produzieren lassen und verkaufen, um das Projekt damit finanziell zu unterstützen: dazu hat weder Hannah noch sonst jemand die Muße. Die Instandhaltung des Bootes mit kleinem Budget nimmt neben dem Segeln viel Zeit in Anspruch. Gerade mal 80 € die Woche zahle ich als Crewmitglied. Auch die Törnplanung mit ständig wechselnder Besatzung ist aufwändig.

Wichtiger, als eine langfristige Finanzplanung für das Schiff ist für Hannah ein offener und respektvoller Umgang an Bord, der die Hierarchien auf das notwendige Minimum beschränkt – und den Mitsegelnden Selbstvertrauen ermöglicht. „Skippern ist zu 60 % ein sozialer Skill. Wenn man den Leuten den Druck nimmt, ist es teilweise erstaunlich, wie sich das Mindset in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten in kurzer Zeit verändert. Ich habe darin meine Erfüllung gefunden.“
Wie lange Hannah das Projekt auf Triton noch weiterführen kann, ist entsprechend ungewiss. Vom Eigner-Ehepaar wird bald ein dringend erforderlicher neuer Motor angeschafft. Kosten dieser Höhe durch angezogene Crewbeiträge zu finanzieren, widerspricht aber zu sehr der Idee der Chancengleichheit. Eine, die Hannah ohne jeden Zweifel weiter verfolgen wird. Vielleicht zukünftig auf einem fitteren Schiff.
Auch Rückschläge sind Fortschritte
Als ich Triton nach zweieinhalb Wochen verlasse, bin ich froh, braun gebrannt – und immer noch auf Ibiza. Lange Wartezeiten wegen des Windes und der Segelreparatur haben uns am Ende lediglich erlaubt, nur noch eine weitere Ankerbucht auf der Nordseite der Insel anzusteuern. Um einen bezahlbaren Liegeplatz mit guter Verkehrsanbindung in der Hochsaison zu ergattern, blieb uns schließlich nur, widerwillig in den Partyhafen von Sant Antoni zurückzukehren. Einmal hatten wir noch versucht, nach Mallorca überzusetzen. Doch eine Flaute hatte uns auch da schon zur Umkehr gezwungen.
„Gut skippern heißt nicht nur zu wissen, wie man segelt, sondern auch, wann man es nicht tun sollte” sagt Eni, nachdem wir uns nach langem Abwägen gegen eine Fortsetzung der Route entschließen.
Der Umgang mit Grenzerfahrungen: Ein wichtiger Teil auf dem Weg, das Segeln zu erlernen. Egal, mit wem und auf welchem Boot. Der Unterschied bei den FLINTA*-Crews auf Triton ist, wer entscheidet, wo diese Grenzen liegen: nämlich das Schiff, der Wind – und sonst niemand, außer man selbst.

Quellen:
https://www.facebook.com/Balancetavoile/?locale=de_DE
https://www.facebook.com/sailingsafelywomen/
https://sy-sissi.de/wp-content/uploads/2022/06/violence-on-bord.jpg
https://www.maritimelegalaid.com/report-sash-how-to-report-sexual-harassment-and-assault-to-us-coast-guard/
https://floatmagazin.de/leute/schwarze-schafe-unter-weissen-segeln/
Ein mutiger Schritt vom Steg ist erforderlich, als ich in der warmen, böigen Abenddämmerung im Hafen von Dénia das erste Mal Fuß auf Tritons Deck setze. Mit einer Hand am Achterstag, die andere am Reiserucksack, betrete ich das schmale Cockpit der ehemaligen Regattayacht. Dass es sich hierbei um kein gewöhnliches Boot handelt, ist schwer zu übersehen. Neben dem handgeschriebenen Namensbanner am Seezaun und der mit pinken Delfinen und dem Wort „Danke“ bemalten Außenborderhalterung kokettiert die Pride-Flagge groß und farbenfroh im dominierenden Weiß-Blau des Charterhafens.
Triton, eine knapp 10 Meter lange Segelyacht aus den 1970er Jahren mit einem 5 PS Innenmotor ist ein Schiff, das seit 2022 in besonderer Mission unterwegs ist. Sie lautet: Einen Freiraum auf dem Meer für Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans- und agender Personen (kurz FLINTA*) zu erschaffen. Anders als beim „Frauensegeln” richtet sich das Projekt also an eine Zielgruppe, die sich nicht über das biologische Geschlecht, sondern über ein modernes, diverses Verständnis von Genderidentität definiert. Und somit auch über ein kritisches in Bezug auf den Status Quo.

Freiräume erschaffen – ausgerechnet auf dem Meer?
Klingt zunächst überflüssig. Doch der Weg vom Land aufs Wasser ist für viele junge Menschen, allein aus finanzieller Sicht, ein mittelbarer. Der Zugang zu Booten und nautischem Wissen führt meist durch die Segelgemeinschaft, in der ein konservatives, männlich dominiertes Geschlechterbild vorherrscht. Eines, in dem Frauen traditionell eine untergeordnete – und genderqueere Menschen gar keine Rolle spielen.
Das Projekt „Sailing Triton” ist dazu der Gegenentwurf: Geschlechterhierarchien haben hier genauso wenig Platz wie diejenigen, die sie gutheißen. Für alle anderen soll der Zugang so niederschwellig wie möglich gestaltet werden.
Mit diesem Ziel führte der Weg bislang von Pontrieux in der Bretagne über den Golf von Biscaya bis Südspanien – mit circa 6 Knoten Topspeed und regelmäßig wechselnder, oft unerfahrener Crew. Die Ausstattung: minimalistisch. Kein GPS-Kartenplotter, kein Windmesser oder sonstige technische Ausstattung. Für die Notdurft steht ein Eimer bereit, zum Schlafen vier offene Kojen, von denen zwei tagsüber als einzige Sitzmöglichkeit unter Deck dienen. Privatsphäre? Fehlanzeige.
Wo man sich unter Deck allerdings umschaut: kleine Bilder und Basteleien sowie handgemachte Dankes- und Liebesbekundungen an Schiff, Crew und die See. Freiheit ist ein Begriff, der klassisch mit dem Segeln assoziiert wird. Luxus auch. Beides bekommt für die Menschen an Bord von Triton, so lassen die vielen Symbole der Wertschätzung vermuten, einen alternativen Bedeutungshorizont.

Aufbruchstimmung
Hannah ist 29 Jahre alt und hat das Projekt gegründet sowie den größten Teil der Strecke allein geskippert. Gelegentlich übernehmen mittlerweile ehemalige Crewmitglieder nun selbst die Schiffsführung. So auch auf meinem Törn. Eni, 20 Jahre alt, steht barfuß da, sonnengebräunt und mit knallblond gefärbtem Kurzhaarschnitt, als sie mich verlegen lächelnd begrüßt. „Willkommen auf Triton. Die anderen beiden kommen erst morgen. Ich find’ das ganz gut, dann haben wir beide schon einmal ein bisschen Zeit, uns kennenzulernen.“ Eni ist mit dem elterlichen Segelboot groß geworden und seit vier Monaten an Bord. Auf dieser Reise übernimmt sie zum ersten Mal selbst das Kommando.
Die anderen, das sind Eva und Charly. Einen Tag nach meiner Ankunft sind wir schließlich komplett: Vier Frauen zwischen 20 und Anfang 40, die sich nicht kennen und sehr unterschiedliche Segelerfahrung mitbringen – und es in knapp drei Wochen vom spanischen Festland so weit wie möglich über die Balearen schaffen wollen. Dass wir auf diesem Törn nur Frauen sind, ist reiner Zufall, denn mit welchem Buchstaben des FLINTA*-Akronyms man sich identifiziert, spielt hier keine Rolle. Vielmehr lautet der gemeinsame Nenner: Segeln – aber ohne die üblichen, männlichen Dominanzstrukturen.

Gender Sail Gap
Hannah selbst ist genderqueer und hat auf dem Weg zum eigenen Segelprojekt selbst viele Erfahrungen mit Ungleichheit im Segelsport gemacht. Durch die einschlägigen Mitsegelportale entstanden viele Begegnungen, die für Hannah ernüchternd waren, aber auch der Kontakt zu Tritons Eigner-Ehepaar ergab sich auf diesem Weg. Seither leiht Hannah sich das Schiff, um es mit möglichst vielen, diversen Menschen zu segeln – und sich im Gegenzug um die Instandhaltung zu kümmern. Mit Anfang 20 als Rookie eingestiegen, hat Hannah heute rund 6500 Seemeilen auf dem Konto und gerade den „Yachtmaster Offshore” der britischen RYA absolviert – einen der anspruchsvollsten Segelscheine weltweit.
Die Motivation, außer der eigenen Leidenschaft am Segeln, ein solches Projekt ins Leben zu rufen? Laut Hanna: „Zorn und Veränderungswille” gegenüber einer Segelcommunity, die hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse eine deutliche Schieflage aufzeigt.
Denn wer ein Schiff führen will, braucht Erfahrung. Doch diese zu erlangen, um irgendwann selbst das Ruder zu übernehmen – daran scheitern andere junge FLINTA* Personen häufig. Das bestätigt ein empirischer Blick hinter die Steuerstände in Sport- und Yachthäfen ebenso, wie die Mitgliederzahlen deutscher Segelverbände. 31 % weibliche Mitglieder in 2023 (die Angabe “divers” wurde nicht erhoben), der Großteil aller Mitglieder im Alter zwischen 41 und 60 Jahren. Wenig Frauen insgesamt, noch weniger junge – und keine Aussage darüber, wie wenige von ihnen tatsächlich skippern.
Warum ist das so?
„Zu viele Frauen an Bord: Zickenalarm.“
Diesen Satz höre ich, als ich mit einem befreundeten Skipper vor meiner Abreise von meinem Vorhaben erzähle, drei Wochen auf Triton zu segeln. Aus seiner Skepsis gegenüber dem alternativen Crewkonzept macht er keinen Hehl, sodass ich davon absehe zu erklären, dass es nicht nur Frauen sind, die sich hier zusammentun. Als langjähriger Ausbilder hat er seine eigenen Erfahrungen gemacht, die besagten: Zu viele Frauen an Bord sind immer problematisch. Ob das seiner Meinung nach an mangelnder Segel- bzw. Sozialkompetenz liegt – oder doch nur an alten Klischees, die in der Seefahrtswelt tief verankert sind, lässt er offen.
„Gefühlt wird man in den Häfen regelmäßig in die 60er zurückversetzt. Klassische Frauenaufgaben sind Vorschot, Fender und die Reproduktionsarbeit an Bord, also der Bordhaushalt.“ Das sind Hannahs Erfahrungen. Frauen in Verantwortungspositionen? Sehr selten. „Eigentlich kann man das Segeln relativ schnell und einfach erlernen – wenn man sich wohlfühlt. Mir wurde aber von außen fast immer das Gefühl vermittelt, dass es totaler Humbug sei, dass ich mich an Bord eines Schiffes autark bewegen will.“
Zu Beginn vieler Segelkarrieren gehört es sicherlich dazu, sich gegen diese Art Widerstand zu behaupten. Für Hannah ist aber klar: Das Geschlecht spielt eine große Rolle dabei, wie groß er ist.
„Wenn mir in den ersten Jahren Dinge erklärt wurden, war das Ziel nicht, dass ich etwas verstehe. Vielmehr hatte ich den Eindruck, der Erklärende will sich einfach mit seinem Wissensvorsprung profilieren.“ Erfahrungen wie diese haben Hannah erst wütend gemacht – und dann aktiv werden lassen „Ich hatte das Gefühl, dass hier was nicht stimmt. Und ich wusste, dass ich nicht das Problem bin. Deswegen wollte ich einen Raum schaffen, in dem es für unerfahrene, nicht cis-männliche Personen leichter ist, einen Einstieg zu finden.“

„Solo chicas? Muy bien!“
Fünf Tage nach meiner Ankunft auf Triton betrete ich frühmorgens das gläserne Hafenbüro in Sant Antoni de Portmany. So lange mussten wir im Hafen von Dénia ausharren, bis der Wind uns die Überfahrt nach Ibiza erlaubte. Die lange Reise und eine zähe, nächtliche Diskussion über Funk wegen unserer Verspätung hängen mir noch in den Knochen. Da ich gut Spanisch spreche, übernehme ich nun auch unsere Anmeldung.
Nach mediterraner Romantik sucht man im 500 Liegeplätze umfassenden Hafen der touristischen Partystadt vergeblich. Und auch die Kulanzbereitschaft der Mitarbeitenden, uns trotz verspäteter Ankunft willkommen zu heißen, fällt ernüchternd aus.
„No se puede“ wird mir nicht nur von dem jungen, uniformierten Mann immer wieder gesagt, der mir hinter der Plexiglasscheibe gegenüber sitzt.
„Das geht so nicht.“
Wir hatten uns eigenmächtig in eine beliebige freie Box gelegt, um am nächsten Morgen die Formalitäten zu regeln.
Nachdem ich mich mehrfach erkläre und entschuldige, geht er schließlich wortlos mit unseren Bootspapieren ins Hinterzimmer. Erleichterung setzt bei mir ein, als er zurückkommt und unsere Personalausweise sehen möchte, um uns anzumelden. Als er sie mehrfach durchschaut, fragt er schließlich
„Quien es el capitan?“ „Wer ist der Schiffsführer?“
„Eni“, sage ich und deute auf ihren Ausweis. Das erste Mal seit meiner Ankunft huscht ein Lächeln über sein Gesicht. „Muy bien“, sagt er, das heißt „sehr gut“. Bei ihm klingt es wie „nicht schlecht“.
„Uns wurde schon nach ganz normalen Anlegemanövern applaudiert.“
Das sagt mir Hannah, als ich nach anderen Reaktionen auf das Projekt in den Häfen frage. Applaus für ein simples Anlegemanöver – sicher gut gemeint. Aber das zeige, wie etabliert die Erwartung ist, dass Frauen und als solche gelesenen Personen weniger souverän mit einem Boot umgehen können. Und wie groß die Überraschung ist, wenn sie das Gegenteil beweisen.
Sei sie nun positiv oder negativ: Die übertriebene Aufmerksamkeit, die FLINTA*-Personen beim Segeln erfahren, ist eine, der sich viele nicht oft nicht aussetzen wollen. „Es gibt so wenige weibliche, geschweige denn genderqueere Vorbilder in der Segelwelt“, sagt Hannah nachdenklich.
Dieser Mangel an Wegbereitung wird ganz allgemein als Role-Model-Gap bezeichnet und wirkt wie eine zusätzliche, im wahrsten Sinne „unsichtbare” Barriere. Denn wenn Menschen keine Vorbilder haben, mit denen sie sich identifizieren können, fällt es ihnen schwerer, sich selbst in solchen Rollen zu sehen. Und werden somit selbst auch niemals zu welchen.
Unterschätzt werden und sich selbst unterschätzen: Ein beidseitiges Problem also, das auch beidseitig gelöst werden muss.
Leider gibt es aber auch solche, bei denen die Verantwortung deutlich einseitiger ist.
Sicherheit an Bord: Mehr, als nur eine Frage der Rettungsmittel
„Ich werde nie vergessen, wie ich während einer Überführung in Horta auf den Azoren am Steg auf eine junge Person namens Jamie traf, die gerade einem sexuellen Übergriff entkommen war“, berichtet Hannah.
Solche Vorfälle sind auf Segelbooten ein bekanntes Problem, das durch die Hierarchien und die Isolation auf See begünstigt wird. Besonders Plattformen wie „Crewbay“ oder „Find a Crew“, die Mitsegelgelegenheiten vermitteln, geraten dabei immer wieder in den Fokus. Alleinreisende Frauen berichten, dass manche Skipper ihre Machtposition ausnutzen, um Grenzen zu überschreiten oder Gewalt auszuüben. Gruppen wie „Safety Precautions for Female Crew on Leisure Boats“ haben begonnen, Tipps und Blacklists verdächtiger Skipper zu teilen, um Mitseglerinnen zu schützen. Doch selbst mit diesen Hilfsmitteln bleibt es eine Herausforderung, solche Vorfälle zu verhindern – und für Betroffene ist es auf See oft nahezu unmöglich, rechtzeitig Hilfe zu holen.
Auch in Jamies Fall unterhielt der Skipper zu der gesamten, teils minderjährigen Crew sexuelle Beziehungen. Jamie selbst hatte den Absprung aus diesem Missbrauchsumfeld gerade noch so geschafft – die anderen waren dort geblieben. Anfänglich hätten zwar alle gesagt, dass sie nicht einverstanden wären. Aber der Skipper belästigte sie weiter, und so fanden sie sich damit ab, „dass dies der Preis zu sein schien, um den großen Traum nicht aufzugeben.“
„Auf einem Segelboot zu reisen ist für viele so unerreichbar, dass man bereit sein muss, solche Dinge hinzunehmen. Wer weiß schließlich, wann man wieder die Chance dazu bekommt.“ So beschreibt Hannah den faulen Deal, der in den Hierarchie- und Abhängigkeitsverhältnissen an Bord häufig zu herrschen scheint. „Selbst schuld, wenn die an Bord bleiben“ hatten die anderen im Hafen die Angelegenheit abgetan.
„Das ist für mich das komplette Gegenteil von guter Seemannschaft. Ich wünsche mir eine Segelcommunity, die mehr füreinander einsteht und die gegenseitige Verantwortung ernster nimmt.“ Gute Seemannschaft bedeutet neben Fachkenntnis und Sorgfalt eben auch: Hilfsbereitschaft und respektvoller Umgang.
„Laut werden wir hier nur, um den Wind zu übertönen”
Die drückende Sommerhitze nimmt langsam ab, als wir einige Tage später in der Bucht von Port San Miguel im Norden Ibizas an Tritons Deck sitzen und zu Abend essen. Neben vielen anderen Booten liegt auch die Superyacht von Marc Zuckerberg samt Schattenschiff hier und versperrt den Ausblick auf den malerischen Sonnenuntergang über türkisblauem Wasser.
Seit vier Tagen liegen wir außerplanmäßig vor Anker. Bei einem Wendemanöver auf dem Weg von Sant Antoni hierher ist uns das Vorsegel gerissen. Glücklicherweise fand sich an Bord eines Nachbarbootes eine Nähmaschine, mit der Eni und Charly die Reparatur nun selbst vornehmen.

„Ich bin wirklich stolz auf uns, wie wir das gemeistert haben. Alle sind ruhig geblieben“, sage ich, als wir den Moment des Segelrisses noch einmal Revue passieren lassen. Tatsächlich hatten wir uns im Moment des Unfalls zügig und besonnen auf unsere Positionen begeben: Eva und Eni aufs Vorschiff, Charly ans Steuer, ich an den Ausguck.
„Ja, das finde ich auch“, sagt Eni, die wie wir alle noch dabei ist, den Schock zu verkraften.
Als der sich ausbreitende Riss vor unseren Augen plötzlich den blauen Himmel dahinter freigab, war es das einzige Mal, dass sie uns lautstark herumkommandiert hatte. Der Lärm der im Wind schlagenden Segelteile und der vorübergehende Kontrollverlust über das Schiff hatten dies erfordert. Ein solcher Befehlston wird ansonsten auf Triton nicht angeschlagen. Egal ob Stress oder strapazierte Nerven: Gewaltfreiheit ist eine gelebte Maxime an Bord dieses Schiffes. Bei der Kommunikation – und auch in jeder anderen Hinsicht.
“Violence on board, captain over board “
Dieser Satz steht auf den T-Shirts mit Triton-Logo, von denen sich ein Restbestand im Kojenstaufach im Salon befindet. Gewalt an Bord? Kapitän von Bord. Im Original steht er auf einer Mauer im Hafen von Horta – genau dort, wo Hannah damals Jamie aufgelöst am Steg vorfand. Auch in Facebookgruppen wie Balance ta voile, die 2020 zur Vernetzung im Kampf gegen Übergriffe, Diskriminierung und Machtmissbrauch auf Segelbooten gegründet wurde, taucht das Bild dieses Graffiti auf.
Ein paar der T-Shirts sind noch übrig. Neu produzieren lassen und verkaufen, um das Projekt damit finanziell zu unterstützen: dazu hat weder Hannah noch sonst jemand die Muße. Die Instandhaltung des Bootes mit kleinem Budget nimmt neben dem Segeln viel Zeit in Anspruch. Gerade mal 80 € die Woche zahle ich als Crewmitglied. Auch die Törnplanung mit ständig wechselnder Besatzung ist aufwändig.

Wichtiger, als eine langfristige Finanzplanung für das Schiff ist für Hannah ein offener und respektvoller Umgang an Bord, der die Hierarchien auf das notwendige Minimum beschränkt – und den Mitsegelnden Selbstvertrauen ermöglicht. „Skippern ist zu 60 % ein sozialer Skill. Wenn man den Leuten den Druck nimmt, ist es teilweise erstaunlich, wie sich das Mindset in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten in kurzer Zeit verändert. Ich habe darin meine Erfüllung gefunden.“
Wie lange Hannah das Projekt auf Triton noch weiterführen kann, ist entsprechend ungewiss. Vom Eigner-Ehepaar wird bald ein dringend erforderlicher neuer Motor angeschafft. Kosten dieser Höhe durch angezogene Crewbeiträge zu finanzieren, widerspricht aber zu sehr der Idee der Chancengleichheit. Eine, die Hannah ohne jeden Zweifel weiter verfolgen wird. Vielleicht zukünftig auf einem fitteren Schiff.
Auch Rückschläge sind Fortschritte
Als ich Triton nach zweieinhalb Wochen verlasse, bin ich froh, braun gebrannt – und immer noch auf Ibiza. Lange Wartezeiten wegen des Windes und der Segelreparatur haben uns am Ende lediglich erlaubt, nur noch eine weitere Ankerbucht auf der Nordseite der Insel anzusteuern. Um einen bezahlbaren Liegeplatz mit guter Verkehrsanbindung in der Hochsaison zu ergattern, blieb uns schließlich nur, widerwillig in den Partyhafen von Sant Antoni zurückzukehren. Einmal hatten wir noch versucht, nach Mallorca überzusetzen. Doch eine Flaute hatte uns auch da schon zur Umkehr gezwungen.
„Gut skippern heißt nicht nur zu wissen, wie man segelt, sondern auch, wann man es nicht tun sollte” sagt Eni, nachdem wir uns nach langem Abwägen gegen eine Fortsetzung der Route entschließen.
Der Umgang mit Grenzerfahrungen: Ein wichtiger Teil auf dem Weg, das Segeln zu erlernen. Egal, mit wem und auf welchem Boot. Der Unterschied bei den FLINTA*-Crews auf Triton ist, wer entscheidet, wo diese Grenzen liegen: nämlich das Schiff, der Wind – und sonst niemand, außer man selbst.

Quellen:
https://www.facebook.com/Balancetavoile/?locale=de_DE
https://www.facebook.com/sailingsafelywomen/
https://sy-sissi.de/wp-content/uploads/2022/06/violence-on-bord.jpg
https://www.maritimelegalaid.com/report-sash-how-to-report-sexual-harassment-and-assault-to-us-coast-guard/
https://floatmagazin.de/leute/schwarze-schafe-unter-weissen-segeln/
Ein mutiger Schritt vom Steg ist erforderlich, als ich in der warmen, böigen Abenddämmerung im Hafen von Dénia das erste Mal Fuß auf Tritons Deck setze. Mit einer Hand am Achterstag, die andere am Reiserucksack, betrete ich das schmale Cockpit der ehemaligen Regattayacht. Dass es sich hierbei um kein gewöhnliches Boot handelt, ist schwer zu übersehen. Neben dem handgeschriebenen Namensbanner am Seezaun und der mit pinken Delfinen und dem Wort „Danke“ bemalten Außenborderhalterung kokettiert die Pride-Flagge groß und farbenfroh im dominierenden Weiß-Blau des Charterhafens.
Triton, eine knapp 10 Meter lange Segelyacht aus den 1970er Jahren mit einem 5 PS Innenmotor ist ein Schiff, das seit 2022 in besonderer Mission unterwegs ist. Sie lautet: Einen Freiraum auf dem Meer für Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans- und agender Personen (kurz FLINTA*) zu erschaffen. Anders als beim „Frauensegeln” richtet sich das Projekt also an eine Zielgruppe, die sich nicht über das biologische Geschlecht, sondern über ein modernes, diverses Verständnis von Genderidentität definiert. Und somit auch über ein kritisches in Bezug auf den Status Quo.

Freiräume erschaffen – ausgerechnet auf dem Meer?
Klingt zunächst überflüssig. Doch der Weg vom Land aufs Wasser ist für viele junge Menschen, allein aus finanzieller Sicht, ein mittelbarer. Der Zugang zu Booten und nautischem Wissen führt meist durch die Segelgemeinschaft, in der ein konservatives, männlich dominiertes Geschlechterbild vorherrscht. Eines, in dem Frauen traditionell eine untergeordnete – und genderqueere Menschen gar keine Rolle spielen.
Das Projekt „Sailing Triton” ist dazu der Gegenentwurf: Geschlechterhierarchien haben hier genauso wenig Platz wie diejenigen, die sie gutheißen. Für alle anderen soll der Zugang so niederschwellig wie möglich gestaltet werden.
Mit diesem Ziel führte der Weg bislang von Pontrieux in der Bretagne über den Golf von Biscaya bis Südspanien – mit circa 6 Knoten Topspeed und regelmäßig wechselnder, oft unerfahrener Crew. Die Ausstattung: minimalistisch. Kein GPS-Kartenplotter, kein Windmesser oder sonstige technische Ausstattung. Für die Notdurft steht ein Eimer bereit, zum Schlafen vier offene Kojen, von denen zwei tagsüber als einzige Sitzmöglichkeit unter Deck dienen. Privatsphäre? Fehlanzeige.
Wo man sich unter Deck allerdings umschaut: kleine Bilder und Basteleien sowie handgemachte Dankes- und Liebesbekundungen an Schiff, Crew und die See. Freiheit ist ein Begriff, der klassisch mit dem Segeln assoziiert wird. Luxus auch. Beides bekommt für die Menschen an Bord von Triton, so lassen die vielen Symbole der Wertschätzung vermuten, einen alternativen Bedeutungshorizont.

Aufbruchstimmung
Hannah ist 29 Jahre alt und hat das Projekt gegründet sowie den größten Teil der Strecke allein geskippert. Gelegentlich übernehmen mittlerweile ehemalige Crewmitglieder nun selbst die Schiffsführung. So auch auf meinem Törn. Eni, 20 Jahre alt, steht barfuß da, sonnengebräunt und mit knallblond gefärbtem Kurzhaarschnitt, als sie mich verlegen lächelnd begrüßt. „Willkommen auf Triton. Die anderen beiden kommen erst morgen. Ich find’ das ganz gut, dann haben wir beide schon einmal ein bisschen Zeit, uns kennenzulernen.“ Eni ist mit dem elterlichen Segelboot groß geworden und seit vier Monaten an Bord. Auf dieser Reise übernimmt sie zum ersten Mal selbst das Kommando.
Die anderen, das sind Eva und Charly. Einen Tag nach meiner Ankunft sind wir schließlich komplett: Vier Frauen zwischen 20 und Anfang 40, die sich nicht kennen und sehr unterschiedliche Segelerfahrung mitbringen – und es in knapp drei Wochen vom spanischen Festland so weit wie möglich über die Balearen schaffen wollen. Dass wir auf diesem Törn nur Frauen sind, ist reiner Zufall, denn mit welchem Buchstaben des FLINTA*-Akronyms man sich identifiziert, spielt hier keine Rolle. Vielmehr lautet der gemeinsame Nenner: Segeln – aber ohne die üblichen, männlichen Dominanzstrukturen.

Gender Sail Gap
Hannah selbst ist genderqueer und hat auf dem Weg zum eigenen Segelprojekt selbst viele Erfahrungen mit Ungleichheit im Segelsport gemacht. Durch die einschlägigen Mitsegelportale entstanden viele Begegnungen, die für Hannah ernüchternd waren, aber auch der Kontakt zu Tritons Eigner-Ehepaar ergab sich auf diesem Weg. Seither leiht Hannah sich das Schiff, um es mit möglichst vielen, diversen Menschen zu segeln – und sich im Gegenzug um die Instandhaltung zu kümmern. Mit Anfang 20 als Rookie eingestiegen, hat Hannah heute rund 6500 Seemeilen auf dem Konto und gerade den „Yachtmaster Offshore” der britischen RYA absolviert – einen der anspruchsvollsten Segelscheine weltweit.
Die Motivation, außer der eigenen Leidenschaft am Segeln, ein solches Projekt ins Leben zu rufen? Laut Hanna: „Zorn und Veränderungswille” gegenüber einer Segelcommunity, die hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse eine deutliche Schieflage aufzeigt.
Denn wer ein Schiff führen will, braucht Erfahrung. Doch diese zu erlangen, um irgendwann selbst das Ruder zu übernehmen – daran scheitern andere junge FLINTA* Personen häufig. Das bestätigt ein empirischer Blick hinter die Steuerstände in Sport- und Yachthäfen ebenso, wie die Mitgliederzahlen deutscher Segelverbände. 31 % weibliche Mitglieder in 2023 (die Angabe “divers” wurde nicht erhoben), der Großteil aller Mitglieder im Alter zwischen 41 und 60 Jahren. Wenig Frauen insgesamt, noch weniger junge – und keine Aussage darüber, wie wenige von ihnen tatsächlich skippern.
Warum ist das so?
„Zu viele Frauen an Bord: Zickenalarm.“
Diesen Satz höre ich, als ich mit einem befreundeten Skipper vor meiner Abreise von meinem Vorhaben erzähle, drei Wochen auf Triton zu segeln. Aus seiner Skepsis gegenüber dem alternativen Crewkonzept macht er keinen Hehl, sodass ich davon absehe zu erklären, dass es nicht nur Frauen sind, die sich hier zusammentun. Als langjähriger Ausbilder hat er seine eigenen Erfahrungen gemacht, die besagten: Zu viele Frauen an Bord sind immer problematisch. Ob das seiner Meinung nach an mangelnder Segel- bzw. Sozialkompetenz liegt – oder doch nur an alten Klischees, die in der Seefahrtswelt tief verankert sind, lässt er offen.
„Gefühlt wird man in den Häfen regelmäßig in die 60er zurückversetzt. Klassische Frauenaufgaben sind Vorschot, Fender und die Reproduktionsarbeit an Bord, also der Bordhaushalt.“ Das sind Hannahs Erfahrungen. Frauen in Verantwortungspositionen? Sehr selten. „Eigentlich kann man das Segeln relativ schnell und einfach erlernen – wenn man sich wohlfühlt. Mir wurde aber von außen fast immer das Gefühl vermittelt, dass es totaler Humbug sei, dass ich mich an Bord eines Schiffes autark bewegen will.“
Zu Beginn vieler Segelkarrieren gehört es sicherlich dazu, sich gegen diese Art Widerstand zu behaupten. Für Hannah ist aber klar: Das Geschlecht spielt eine große Rolle dabei, wie groß er ist.
„Wenn mir in den ersten Jahren Dinge erklärt wurden, war das Ziel nicht, dass ich etwas verstehe. Vielmehr hatte ich den Eindruck, der Erklärende will sich einfach mit seinem Wissensvorsprung profilieren.“ Erfahrungen wie diese haben Hannah erst wütend gemacht – und dann aktiv werden lassen „Ich hatte das Gefühl, dass hier was nicht stimmt. Und ich wusste, dass ich nicht das Problem bin. Deswegen wollte ich einen Raum schaffen, in dem es für unerfahrene, nicht cis-männliche Personen leichter ist, einen Einstieg zu finden.“

„Solo chicas? Muy bien!“
Fünf Tage nach meiner Ankunft auf Triton betrete ich frühmorgens das gläserne Hafenbüro in Sant Antoni de Portmany. So lange mussten wir im Hafen von Dénia ausharren, bis der Wind uns die Überfahrt nach Ibiza erlaubte. Die lange Reise und eine zähe, nächtliche Diskussion über Funk wegen unserer Verspätung hängen mir noch in den Knochen. Da ich gut Spanisch spreche, übernehme ich nun auch unsere Anmeldung.
Nach mediterraner Romantik sucht man im 500 Liegeplätze umfassenden Hafen der touristischen Partystadt vergeblich. Und auch die Kulanzbereitschaft der Mitarbeitenden, uns trotz verspäteter Ankunft willkommen zu heißen, fällt ernüchternd aus.
„No se puede“ wird mir nicht nur von dem jungen, uniformierten Mann immer wieder gesagt, der mir hinter der Plexiglasscheibe gegenüber sitzt.
„Das geht so nicht.“
Wir hatten uns eigenmächtig in eine beliebige freie Box gelegt, um am nächsten Morgen die Formalitäten zu regeln.
Nachdem ich mich mehrfach erkläre und entschuldige, geht er schließlich wortlos mit unseren Bootspapieren ins Hinterzimmer. Erleichterung setzt bei mir ein, als er zurückkommt und unsere Personalausweise sehen möchte, um uns anzumelden. Als er sie mehrfach durchschaut, fragt er schließlich
„Quien es el capitan?“ „Wer ist der Schiffsführer?“
„Eni“, sage ich und deute auf ihren Ausweis. Das erste Mal seit meiner Ankunft huscht ein Lächeln über sein Gesicht. „Muy bien“, sagt er, das heißt „sehr gut“. Bei ihm klingt es wie „nicht schlecht“.
„Uns wurde schon nach ganz normalen Anlegemanövern applaudiert.“
Das sagt mir Hannah, als ich nach anderen Reaktionen auf das Projekt in den Häfen frage. Applaus für ein simples Anlegemanöver – sicher gut gemeint. Aber das zeige, wie etabliert die Erwartung ist, dass Frauen und als solche gelesenen Personen weniger souverän mit einem Boot umgehen können. Und wie groß die Überraschung ist, wenn sie das Gegenteil beweisen.
Sei sie nun positiv oder negativ: Die übertriebene Aufmerksamkeit, die FLINTA*-Personen beim Segeln erfahren, ist eine, der sich viele nicht oft nicht aussetzen wollen. „Es gibt so wenige weibliche, geschweige denn genderqueere Vorbilder in der Segelwelt“, sagt Hannah nachdenklich.
Dieser Mangel an Wegbereitung wird ganz allgemein als Role-Model-Gap bezeichnet und wirkt wie eine zusätzliche, im wahrsten Sinne „unsichtbare” Barriere. Denn wenn Menschen keine Vorbilder haben, mit denen sie sich identifizieren können, fällt es ihnen schwerer, sich selbst in solchen Rollen zu sehen. Und werden somit selbst auch niemals zu welchen.
Unterschätzt werden und sich selbst unterschätzen: Ein beidseitiges Problem also, das auch beidseitig gelöst werden muss.
Leider gibt es aber auch solche, bei denen die Verantwortung deutlich einseitiger ist.
Sicherheit an Bord: Mehr, als nur eine Frage der Rettungsmittel
„Ich werde nie vergessen, wie ich während einer Überführung in Horta auf den Azoren am Steg auf eine junge Person namens Jamie traf, die gerade einem sexuellen Übergriff entkommen war“, berichtet Hannah.
Solche Vorfälle sind auf Segelbooten ein bekanntes Problem, das durch die Hierarchien und die Isolation auf See begünstigt wird. Besonders Plattformen wie „Crewbay“ oder „Find a Crew“, die Mitsegelgelegenheiten vermitteln, geraten dabei immer wieder in den Fokus. Alleinreisende Frauen berichten, dass manche Skipper ihre Machtposition ausnutzen, um Grenzen zu überschreiten oder Gewalt auszuüben. Gruppen wie „Safety Precautions for Female Crew on Leisure Boats“ haben begonnen, Tipps und Blacklists verdächtiger Skipper zu teilen, um Mitseglerinnen zu schützen. Doch selbst mit diesen Hilfsmitteln bleibt es eine Herausforderung, solche Vorfälle zu verhindern – und für Betroffene ist es auf See oft nahezu unmöglich, rechtzeitig Hilfe zu holen.
Auch in Jamies Fall unterhielt der Skipper zu der gesamten, teils minderjährigen Crew sexuelle Beziehungen. Jamie selbst hatte den Absprung aus diesem Missbrauchsumfeld gerade noch so geschafft – die anderen waren dort geblieben. Anfänglich hätten zwar alle gesagt, dass sie nicht einverstanden wären. Aber der Skipper belästigte sie weiter, und so fanden sie sich damit ab, „dass dies der Preis zu sein schien, um den großen Traum nicht aufzugeben.“
„Auf einem Segelboot zu reisen ist für viele so unerreichbar, dass man bereit sein muss, solche Dinge hinzunehmen. Wer weiß schließlich, wann man wieder die Chance dazu bekommt.“ So beschreibt Hannah den faulen Deal, der in den Hierarchie- und Abhängigkeitsverhältnissen an Bord häufig zu herrschen scheint. „Selbst schuld, wenn die an Bord bleiben“ hatten die anderen im Hafen die Angelegenheit abgetan.
„Das ist für mich das komplette Gegenteil von guter Seemannschaft. Ich wünsche mir eine Segelcommunity, die mehr füreinander einsteht und die gegenseitige Verantwortung ernster nimmt.“ Gute Seemannschaft bedeutet neben Fachkenntnis und Sorgfalt eben auch: Hilfsbereitschaft und respektvoller Umgang.
„Laut werden wir hier nur, um den Wind zu übertönen”
Die drückende Sommerhitze nimmt langsam ab, als wir einige Tage später in der Bucht von Port San Miguel im Norden Ibizas an Tritons Deck sitzen und zu Abend essen. Neben vielen anderen Booten liegt auch die Superyacht von Marc Zuckerberg samt Schattenschiff hier und versperrt den Ausblick auf den malerischen Sonnenuntergang über türkisblauem Wasser.
Seit vier Tagen liegen wir außerplanmäßig vor Anker. Bei einem Wendemanöver auf dem Weg von Sant Antoni hierher ist uns das Vorsegel gerissen. Glücklicherweise fand sich an Bord eines Nachbarbootes eine Nähmaschine, mit der Eni und Charly die Reparatur nun selbst vornehmen.

„Ich bin wirklich stolz auf uns, wie wir das gemeistert haben. Alle sind ruhig geblieben“, sage ich, als wir den Moment des Segelrisses noch einmal Revue passieren lassen. Tatsächlich hatten wir uns im Moment des Unfalls zügig und besonnen auf unsere Positionen begeben: Eva und Eni aufs Vorschiff, Charly ans Steuer, ich an den Ausguck.
„Ja, das finde ich auch“, sagt Eni, die wie wir alle noch dabei ist, den Schock zu verkraften.
Als der sich ausbreitende Riss vor unseren Augen plötzlich den blauen Himmel dahinter freigab, war es das einzige Mal, dass sie uns lautstark herumkommandiert hatte. Der Lärm der im Wind schlagenden Segelteile und der vorübergehende Kontrollverlust über das Schiff hatten dies erfordert. Ein solcher Befehlston wird ansonsten auf Triton nicht angeschlagen. Egal ob Stress oder strapazierte Nerven: Gewaltfreiheit ist eine gelebte Maxime an Bord dieses Schiffes. Bei der Kommunikation – und auch in jeder anderen Hinsicht.
“Violence on board, captain over board “
Dieser Satz steht auf den T-Shirts mit Triton-Logo, von denen sich ein Restbestand im Kojenstaufach im Salon befindet. Gewalt an Bord? Kapitän von Bord. Im Original steht er auf einer Mauer im Hafen von Horta – genau dort, wo Hannah damals Jamie aufgelöst am Steg vorfand. Auch in Facebookgruppen wie Balance ta voile, die 2020 zur Vernetzung im Kampf gegen Übergriffe, Diskriminierung und Machtmissbrauch auf Segelbooten gegründet wurde, taucht das Bild dieses Graffiti auf.
Ein paar der T-Shirts sind noch übrig. Neu produzieren lassen und verkaufen, um das Projekt damit finanziell zu unterstützen: dazu hat weder Hannah noch sonst jemand die Muße. Die Instandhaltung des Bootes mit kleinem Budget nimmt neben dem Segeln viel Zeit in Anspruch. Gerade mal 80 € die Woche zahle ich als Crewmitglied. Auch die Törnplanung mit ständig wechselnder Besatzung ist aufwändig.

Wichtiger, als eine langfristige Finanzplanung für das Schiff ist für Hannah ein offener und respektvoller Umgang an Bord, der die Hierarchien auf das notwendige Minimum beschränkt – und den Mitsegelnden Selbstvertrauen ermöglicht. „Skippern ist zu 60 % ein sozialer Skill. Wenn man den Leuten den Druck nimmt, ist es teilweise erstaunlich, wie sich das Mindset in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten in kurzer Zeit verändert. Ich habe darin meine Erfüllung gefunden.“
Wie lange Hannah das Projekt auf Triton noch weiterführen kann, ist entsprechend ungewiss. Vom Eigner-Ehepaar wird bald ein dringend erforderlicher neuer Motor angeschafft. Kosten dieser Höhe durch angezogene Crewbeiträge zu finanzieren, widerspricht aber zu sehr der Idee der Chancengleichheit. Eine, die Hannah ohne jeden Zweifel weiter verfolgen wird. Vielleicht zukünftig auf einem fitteren Schiff.
Auch Rückschläge sind Fortschritte
Als ich Triton nach zweieinhalb Wochen verlasse, bin ich froh, braun gebrannt – und immer noch auf Ibiza. Lange Wartezeiten wegen des Windes und der Segelreparatur haben uns am Ende lediglich erlaubt, nur noch eine weitere Ankerbucht auf der Nordseite der Insel anzusteuern. Um einen bezahlbaren Liegeplatz mit guter Verkehrsanbindung in der Hochsaison zu ergattern, blieb uns schließlich nur, widerwillig in den Partyhafen von Sant Antoni zurückzukehren. Einmal hatten wir noch versucht, nach Mallorca überzusetzen. Doch eine Flaute hatte uns auch da schon zur Umkehr gezwungen.
„Gut skippern heißt nicht nur zu wissen, wie man segelt, sondern auch, wann man es nicht tun sollte” sagt Eni, nachdem wir uns nach langem Abwägen gegen eine Fortsetzung der Route entschließen.
Der Umgang mit Grenzerfahrungen: Ein wichtiger Teil auf dem Weg, das Segeln zu erlernen. Egal, mit wem und auf welchem Boot. Der Unterschied bei den FLINTA*-Crews auf Triton ist, wer entscheidet, wo diese Grenzen liegen: nämlich das Schiff, der Wind – und sonst niemand, außer man selbst.

Quellen:
https://www.facebook.com/Balancetavoile/?locale=de_DE
https://www.facebook.com/sailingsafelywomen/
https://sy-sissi.de/wp-content/uploads/2022/06/violence-on-bord.jpg
https://www.maritimelegalaid.com/report-sash-how-to-report-sexual-harassment-and-assault-to-us-coast-guard/
https://floatmagazin.de/leute/schwarze-schafe-unter-weissen-segeln/
Melanie Wildt / Freie Texterin und Autorin
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